Beim Marathon zählen die Kohlenhydrate
Lange Zeit galt es unter Marathonexperten als Basiserkenntnis, dass die Fettverbrennung entscheidend sei für Erfolg oder Misserfolg auf der klassischen Strecke. Das stimmt nicht ganz.
Von Martin Grüning
Mit langen Trainingsläufen – so die Empfehlungen – sollte der Körper auf die spezielle Belastung beim Marathon eingestellt werden, um den Fettstoffwechsel zu trainieren. Dahinter steckt die Theorie, dass Kohlenhydrate, die in den Beinmuskeln gespeichert sind, nach 75 bis 90 Minuten kritisch niedrige Werte erreichen. Das Resultat: Die Muskeln beziehen auf den letzten Kilometern eines Marathons ihren Hauptbrennstoff aus Fetten.
Logische Folge dieser Theorie: Wenn Fette Hauptbrennstoff für lange Strecken sind, gehören lange Läufe zum Basistraining für den Marathon, da so die Fettverbrennung trainiert wird. Mit diesen langen Läufen wird den Muskeln „beigebracht“, Kohlenhydrate für die Verbrennung zurückzuhalten, mehr Fette zu verbrennen und somit die Ausdauer zu verbessern.
Diese Theorie scheint logisch. In der Trainingstheorie des Langstreckenlaufs hat sie eine lange Tradition und viele Anhänger. Die ganze Sache hat nur einen Haken: Die Theorie stimmt nicht.
Nicht Fette, sondern Kohlenhydrate sind der entscheidende Faktor, wenn es um Energievorräte beim Marathon geht. Einen Marathon steht erfolgreich durch, wer seine Fähigkeiten verbessert, Kohlenhydrate zu speichern und zu verwerten. Es gibt neue Beweise, dass Fetten beim Marathon eine geringere Rolle zukommt als bisher angenommen.
In einer Untersuchung an der University of California in Berkeley wurden sechs Marathonläufer mit überdurchschnittlichem Leistungsstand getestet, die den Marathon in 2:43 absolvierten, sowie sechs durchschnittliche Läufer, welche die Strecke in 3:30 schafften. Die Wissenschaftler untersuchten dabei, wie hoch der Anteil von Kohlenhydraten und Fetten bei der Verbrennung während des Marathons war. Die Resultate zeigten, dass Fette höchstens 20 Prozent des Gesamtenergiebedarfs bei den überdurchschnittlichen Läufern ausmachten, bei den durchschnittlichen Marathonläufern waren es höchstens 30 Prozent, und zwar in den ersten drei Stunden des Laufes. Dazu kommt, dass der Anteil der Fettverbrennung möglicherweise durch die Versuchsanordnung zustande kam. Der Grund: Da die Läufer am Morgen des Marathons nichts essen und während des Laufes nichts trinken durften außer Wasser (kein Sportgetränk), liefen sie gewissermaßen auf einer Basis von weniger Kohlenhydraten, als dies sonst möglich wäre. Dadurch erhöhte sich vermutlich die Abhängigkeit des Körpers von Fetten. Hätten sie vor dem Marathon eine kohlenhydratreiche Mahlzeit zu sich nehmen dürfen und während des Laufes ein kohlenhydratreiches Sportgetränk trinken dürfen, hätten sie wohl noch mehr Kohlenhydrate verbrannt und noch weniger Fette.
Es ging den Wissenschaftlern darum herauszufinden, wie die Marathonläufer mit einem derart geringen Anteil an Fettverbrennung so lange laufen konnten. Sie fanden dafür zwei Erklärungen: Zum einen stieg während des Marathons das Niveau von Adrenalin und Noradrenalin im Blut stetig an, beides Hormone mit Schlüsselfunktionen, die Kohlenhydrate für die Muskeln leichter erreichbar machen. Zum anderen spekulierten die Wissenschaftler, dass Laktat, das von nicht beanspruchten Muskeln gebildet wurde, eine zusätzliche Brennstoffquelle für die Beinmuskulatur darstellte.
Diese Erkenntnisse sollten Sie bei Ihrer Marathonvorbereitung berücksichtigen: das heißt natürlich nicht, dass ein Training des Fettstoffwechsels durch lange Läufe überflüssig ist, aber es bedeutet, dass man diese Läufe nicht überbewerten darf. Mehr als sechs bis sieben lange Läufe sind nicht nötig Und es bedeutet zuletzt: Achten Sie unbedingt auf eine kohlenhydratreiche Ernährung in der Marathonvorbereitung (65 Prozent Anteit an der Gesamtenergiebilanz) und vor allem in den letzten Tagen vor dem Marathon.
Zu Martin Grüning
Derzeit ist Martin Grüning stellvertretender Chefredakteur der deutschen Ausgabe von Runner’s World und ein geschätzter Trainingsexperte.
1988 wurde Grüning Zweiter beim Frankfurt Marathon in 2:13:46 Stunden. 1990 wurde er Dritter des Houston-Marathons in seiner persönlichen Bestzeit von 2:13:30, und 1992 belegte er beim Frankfurt Marathon denselben Platz.